Zum Inhalt springen

Für das Jubiläum widmet sich das Festival Tanz in Bern erstmals einem Thema. Unter dem Titel «Verbotene Liebe» beleuchtet es das Begriffspaar «Liebe» und «Verbot» genauer.

Liebe

Das Thema «Liebe» weckt in westlichen Gesellschaften, die bis heute dem Phantasma (1) der romantischen Liebe nachhängen, gängige Assoziationen: Eins-Sein zu zweit, Treue, Verständnis, gemeinsames Wachstum, Verlässlichkeit, Dauer und Leidenschaft – wobei gerade Letzteres, Dauer und Leidenschaft, auf die grösste Unvereinbarkeit hinweist. (2) Liebe, das zeigt sich allein schon daran, umfasst also auch Gegensätzliches.

Was aber, so stellt sich die Frage, ist denn Liebe? Die Antwort kann nur unbefriedigend ausfallen, doch zugleich will die Frage beantwortet werden. Trotz der Unmöglichkeit einer klaren Definition folgt Tanz in Bern dem Philosophen Wilhelm Schmid in seiner Begriffsbestimmung: «Liebe ist eine Beziehung der Zuwendung und Zuneigung von etwas oder jemandem zu etwas oder jemandem.» (3)

Liebe, soviel wird deutlich, kann sich in unterschiedlichen Formen ausdrücken – ja, sie erscheint geradezu als «umfassende Vielseitigkeit eines unfassbaren Phänomens.» (4) Sie zeigt sich als romantische Liebe, jener sehnsuchtsvollen Überhöhung, die nur in der nicht realisierbaren Beziehung möglich ist, ausser das Sehnen an sich wird als Erfüllung empfunden. Sie erscheint unter anderem in Form von Freundschaft, was ein Optimum an Freiheit mit dem Optimum an Bindung zu vereinen vermag. Mit der Liebe gehen aber auch Aspekte einher wie Dominanz, Unterwerfung, Macht, Ungleichheit und Beherrschungsfantasien.

Letztlich ist Liebe also «die endlose Deutung dessen, was als Liebe erfahren wird». (5) Und all diese Deutungen müssen nicht zwingend in Form der heterosexuellen, exklusiven Zweierbeziehung ihre Manifestation erfahren. Wir leben in einer Zeit, in der zwar die lebenslange leidenschaftliche Liebe heftig verteidigt wird, sich aber Lebens- und Liebesverhältnisse ausserhalb dieses Konstrukts verbreiten und neue Ansätze von Liebesauffassungen möglich werden. (6) Dieses eigentliche «Babylon der Liebe» (7) trägt Potential, Diskurse über die Liebe zu öffnen und an die Stelle der Forterzählung der immer gleichen Geschichten und Ideale zu treten. (8)

Verbot

Von den vielen Gestalten der Liebe fokussiert Tanz in Bern die «Verbotene Liebe». Die Liebe aus dem Blickwinkel des Verbots zu betrachten erlaubt, das mannigfaltige Phänomen einzugrenzen. Darüber hinaus macht eine solche Perspektive ungesehene Aspekte der Liebe sichtbar.

Tanz in Bern begibt sich mit «Verbotene Liebe» auf die Spuren von drei Arten des Verbots in der Liebe: der Scheinoffenheit, dem Verbot in der Kunst sowie dem Nachdenken über die Liebe an sich.

1. Scheinoffenheit
Wenn wir über Liebe sprechen, besonders über ihr körperliches Pendant – die Sexualität – scheint vieles möglich und erlaubt zu sein: Ob homo-, hetero- oder bi-, ob asexuell, polyamourös oder grey-sexual, es wird darüber diskutiert. Doch wie weit reicht diese Offenheit? Noch immer zählt das heteronormative Setting von Ehe und Familie als Normalform der Liebesbeziehung. Zwar werden andere Beziehungs- und Liebesformen nicht mehr offen diffamiert, sondern – unvermeidbar wie sie offensichtlich geworden sind – toleriert. Aber sie gelten dennoch als Ausnahme, sollen es auch bleiben und werden, so beispielsweise im Fall der Homo-Ehe, an die gängigen Normen angepasst. (9) Die scheinbare Offenheit vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass dem, was den gesellschaftlichen Normen nicht entspricht, das Stigma des Verbotenen anhaftet – denken wir beispielsweise an das Gebot der Treue. Viel stärker, als wir es uns zugestehen, prägt die christliche Moralvorstellung bis heute unsere Gesellschaft und hat ihre Gebote und Verbote tief in unser Unterbewusstsein gegraben. (10)

2. Verbote in der Kunst
In der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft Artikel 21 ist die Freiheit der Kunst verankert, beziehungsweise «gewährleistet». (11) Bedeutet das, dass auf der Bühne alles erlaubt ist? Und können wir uns, die wir uns in der Schweiz in einem quasi sanktionsfreien Raum künstlerisch betätigen, folglich alles erlauben?

Tanz in Bern geht bei diesen Fragen der Perspektive der Rezipierenden, also dem Publikum nach: Darf ich das anschauen? Darf man das zeigen? Schäme ich mich fremd? In diversen künstlerischen Produktionen im Feld der Performance und des Tanzes ist scheinbar alles gezeigt worden: Nacktheit, Fäkalien, Schmerzerfahrungen und Sexualität werden als Bühnenmittel durch Sparten hindurch verwendet. Ist ein Tabubruch, ist Verbotenes auf der Bühne noch möglich? Falls ja, hängt das von der Kombination und Dramaturgie der oben genannten Mittel ab? Dieses Verbotene und die simple Provokation als einfachstes Mittel, Reaktionen des Publikums auszulösen, werden in den gezeigten Produktionen dargestellt.

3. Sagbarkeitsregeln der Liebe
Kann das heute noch – oder heute gerade wieder – so hoch gehaltene Ideal der romantischen Liebe als gesellschaftlicher Zwang, als Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnis dechiffriert werden, ohne dass diese Analyse sanktioniert wird? (12) Wie weit also dürfen die zutiefst von der dominanten bürgerlichen und christlichen Morallehre imprägnierten Vorstellungen zu Liebe dekonstruiert werden? Solche Reflexionen stossen an Sagbarkeitsgrenzen, da sie Normen erschüttern und an Gewissheiten nagen. Doch vermag all das nicht einzig zu verunsichern, sondern zugleich auch zu befreien? Denn, so eine der Hauptaussagen von Tanz Bern, was Liebe «meint, sein sollte oder sein könnte, kann nicht mehr vorausgesetzt, abgefragt verbindlich verkündet werden, sondern variiert in Inhalten, Ausgrenzungen, Normen, Moral, Möglichkeiten am Ende eventuell von Individuum zu Individuum, Beziehung zu Beziehung, muss in allen Einzelheiten des Wie, Was, Warum, Warum-Nicht enträtselt, verhandelt, abgesprochen, begründet werden.» (13)

 

Bücher-Tipps zum Thema «Verbotene Liebe»

Während des Festivals stellt die Buchhandlung zum Zytglogge einen Tisch mit Büchern zum Festivalthema bereit. Vier der Titel stellen Anneli Binder und Fabienne Amlinger hier vor.

Bernhard Rathmayr:
Geschichte der Liebe
Wandlungen der Geschlechterbeziehungen in der abendländischen Kultur

Für alle, die über Normen hinausdenken, sich mit der Liebe konfrontieren und dabei auf Überraschendes und Befreiendes stossen mögen.

Bernhard Rathmayr liefert einen leicht zugänglichen Überblick zur Geschichte der Liebe. Das unterhaltsam geschriebene Buch geht der Vorstellung über die Liebe seit dem Mittelalter nach und folgt ihrem Wandel bis zur heutigen Vielgestaltigkeit der Liebe – einem wahren «Babylon der Liebe» (S. 300). Mit seinem historischen Blick auf die Liebe verbindet Rathmayr einen emanzipatorischen Anspruch, nämlich «die Liebe aus der Umklammerung zu befreien, in die sie durch die Verabsolutierung des romantischen Prinzips geraten ist, und sie zu öffnen für alle Traditionen und Sensationen, die es bereits gab und die es noch geben wird.» (S.7)

Fabienne Amlinger

Sandra Konrad:
Das beherrschte Geschlecht
Warum sie will, was er will

Sandra Konrad ist wütend, ich bin es auch! Lesen und mit Partner*innen darüber sprechen: für die weibliche, eigene Lust!
Fun Fact: Sandra Konrad erhält die meisten Zuschriften aus der Schweiz.

Nein, das ist kein Buch, um die erkämpfte Befreiung von Prüderie wieder einzufangen. Im Gegenteil, es geht um die Lust, um die weibliche Lust. In diesem 358 Seiten starken Buch schreibt Konrad gegen die Gewalt an, welche an Frauen verübt wird und wurde. Von Klitoridektomie, über Vergewaltigung bis hin zum Alltagssexismus zeichnet Konrad die Geschichte der Unterdrückung der weiblichen Lust und der immer noch anwährenden Gewalt an Frauen nach. Ja, die Dinge sind heute besser, aber «Das kulturelle Gedächtnis vergisst nicht so schnell.» (S.71)

Die weibliche Lust und das Frausein sind immer noch ein Politikum. Sexuelle Gewalt und diskriminierende Äusserungen sind vielerorts wieder oder noch immer salonfähig. «Sexuelle Gewalt ist kein Frauenthema.» (S.286) mahnt Konrad und noch deutlicher ruft sie zur Verantwortung und schreibt es braucht «[…] Männer, die erkennen, dass sexuelle Gewalt kein Frauenproblem, sondern ein Männerproblem ist, das Frauen beeinträchtigt.» (S.286) Das Buch ist ein Aufruf für die weibliche Lust, denn «Sexy ist nicht das Problem. Das Problem liegt im Trugschluss, über die eigene Sexualisierung nachhaltige Macht zu erlangen, aber auch in der Angst sich zu weiblich zu zeigen, weil man sonst nicht mehr ernst genommen wird.» (S.305)

Anneli Binder

 

Eva Illouz:
Die neue Liebesordnung
Frauen, Männer und Shades of Grey

Kurzweilige Lektüre, Illouz bringt ihre Thesen verständlich zu Papier. Eine Pflichtlektüre für Shades of Grey-Fans und solche, die es nicht sind!

Kann man anhand von erfolgreichen Büchern die Normen und Ideale einer Gesellschaft ergründen? Die über das wissenschaftliche Feld hinaus bekannte Soziologin und Autorin Eva Illouz versucht in diesem kleinen Büchlein genau das. In der Reihe der Liebesromane darf «Fifty Shades of Grey» natürlich nicht fehlen. Illouz bezeichnet den Roman dezidiert als Frauenroman und analysiert anhand der Themen Sexualität, BDSM, Feminismus und sog. gleichberechtigten heterosexuellen Beziehungen, dass Shades of Grey als «sexueller Selbsthilfeladen» (S.32) funktioniert, die «die archetypische, traditionelle Männlichkeit […] vor Augen führt» (S.60) und ein Spiegel des heutigen Sexual- und Liebeslebens ist. Gleichberechtigung nun endlich auch im Bett? Weit gefehlt!

Anneli Binder

 

Byung-Chul Han:
Agonie des Eros

Ein Philosoph beobachtet die Populärkultur und schreibt poetisch kompliziert über seine Beobachtungen und Analysen – die kurze Lektüre lohnt sich.

Die begehrende Liebe, Eros, leidet. In dieser kurzen Abhandlung stellt der Autor und Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin fest, dass des Leidens Ursprung die Abstandslosigkeit ist. Wir begehren das Andere, nicht das Gleiche und leben doch in einer Gesellschaft, die versucht, alles gleichzumachen. So schreibt er: «Das Begehren des Anderen weicht dem Komfort des Gleichen» (S.28) und schliesst somit auf die Liebe: «Wird die Liebe heute zur Sexualität profaniert, so weicht aus ihr der universelle Zug des Eros.» (S.55).

Anneli Binder

 

Credits

(1) Rathmayr, Bernhard: Geschichte der Liebe, Paderborn 2016, S. 228

(2) Vgl. Ebd., S. 301.

(3) Schmid, Wilhelm: Die Liebe neu erfinden, Frankfurt a.M. 2010, S. 52.

(4) Ebd., S. 43.

(5) Ebd., S. 48.

(6) Vgl. Rathmayr, S. 299.

(7) Rathmayr, S. 300.

(8) Vgl. Rathmayr, S. 300–304.

(9) Vgl. Rathmayr, S. 298.

(10) Vgl. Rathmayr, S. 148f.

(11) Vgl. https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/index.html#a21.

(12) Was der These von Rathmayr entspricht und beispielsweise durch Barbara Duden bestätigt wird.

(13) Beck/Beck-Gernsheim 1990, S. 13, zitiert in Rathmayr, S. 262.

An den Seitenanfang springen