Irgendwann im Frühling 2017. Ich sass mit Conrad Lambert alias Merz in seinem Atelier im Berner Kulturzentrum Progr, als er mich plötzlich fragte, ob er Associated Artist der Dampfzentrale werden könne. Dieses spezielle Format einer engen Zusammenarbeit über mindestens zwei Jahre hatten wir 2013 in der Dampfzentrale eingeführt – sowohl für die Sparte Bühne als auch für die Musik. Der Schlagzeuger und Allrounder Julian Sartorius war der erste Musiker mit Associated Artist-Status, gerade wurde Zimoun – ein Installationskünstler und Sound Artist – als sein Nachfolger eingesetzt. Ich war über Merz‘ Anfrage zuerst einigermassen baff, konnte nicht nachvollziehen, wieso ein britischer Künstler, der es auf die grossen Konzertbühnen geschafft hatte, die Nähe zu einem lokal verankerten Kulturort sucht.
Merz erklärte mir damals, dass er versuche, sich neu zu finden – auszubrechen aus dem Hamsterrad des Songschreibens, Aufnahmen im Studio, auf Tour gehen, Merchandise umsetzen, neue Songs schreiben… Musikalisch sei er ohnehin auf der Suche nach neuen Pfaden, der klassische Popsong keine zwingende Voraussetzung mehr. Auch interessiere er sich für sparten- und grenzüberschreitende Kunstprojekte. Nichts lag also für ihn näher, als mit einer Organisation zusammenzuarbeiten, die nicht in einer Kultur-Maschinerie verhaftet ist, sondern immer wieder versucht, neue Wege zu beschreiten, Sparten nicht klar voneinander trennt, und auch nicht immer genau weiss, wie sich ein Projekt entwickelt und wohin es schlussendlich führen wird.
So wurde Merz der neue Associated Artist Musik der Dampfzentrale Bern ab Saison 2017/18. Ideen waren genug da, unzählige sogar, die niemals in den geplanten zwei Jahren (aus denen schliesslich drei wurden) hätten realisiert werden können. Alsbald jedoch kristallisierte sich ein erstes Projekt heraus: Als eine Art Hommage an die verstorbene Musikerin Alice Coltrane wollte Merz ein Konzert geben, das den Konzertsaal in einen sakralen Raum verwandelt. Ruhe, Erhabenheit, Respekt, Demut, jedoch hier in einem Kontext frei von Religiosität und Glaube. Eine Konzert-Zeremonie. Als musikalischen Partner für dieses Unterfangen stand der US-amerikanische Musiker Laraaji zuoberst auf Merz‘ Wunschliste. Das Glück war uns hold, Laraaji willigte ein. «A Monastic Gig» geschah im Sommer 2018 in der Dampfzentrale Bern.
Fragte mich Merz. Die Idee war zugleich faszinierend wie verwirrend: Bevor ich Konzertveranstalter wurde, war ich bei einem Tonträgervertrieb und Plattenlabel verantwortlich für die Gestaltung des Vertriebssortiments und dessen Verkauf. Seit meiner Jugend bin ich Plattensammler und führte bis vor ein paar Jahren ein eigenes kleines Label. Dass Merz, der mit Leuten wie Herbert Grönemeyer und Matthew Herbert Leute kannte, die seine Platten perfekt auf dem Tonträgermarkt platzieren konnten, diesen Vorschlag wirklich ernst meinte, konnte ich zuerst nicht glauben, hatte aber seine Argumente noch nicht verstanden. Er wollte eben gerade aus diesem ganzen Zirkus ausbrechen: Verkaufszahlen, Promotionsauftritte, Radio-Singles, Interviewtermine, Verkaufsabrechnungen – das alles interessierte ihn nicht mehr. Er wollte Kunst machen, keine Popmusik-Schemata erfüllen, und er fand sich damit bei der Dampfzentrale bestens aufgehoben.
Aus dieser Idee entstand im Sommer 2018 das Albumprojekt. Was zuerst ein Merz-Soloalbum mit Gastauftritten seines Freundes, dem US-amerikanischen Multiinstrumentalisten Shahzad Ismaily, werden sollte, wurde schliesslich eine Kollaboration dreier sehr unterschiedlicher Figuren der internationalen Musikszene: Merz, Laraaji und Shahzad Ismaily.
Die drei Musiker waren zu keinem Zeitpunkt zusammen im Studio. «Dreams of Sleep and Wakes of Sound» ist in erster Linie ein aufwändiges Studioprojekt von Conrad Lambert, welches er aus gemeinsamen Aufnahmen mit Laraaji und Shahzad Ismaily zu einem stringenten, homogenen Album verarbeitete, welches seiner musikalischen Vorstellung von dem, was er als «industrial devotional» bezeichnet, zu erfüllen vermochte.
Merz heisst eigentlich Conrad Lambert, stammt aus England und legte Ende der 1990er-Jahre einen Senkrechtstart als Popstar hin, mit einem Deal des Major Labels Epic/CBS Records in der Tasche. Der Song «Many Weathers Apart» war dafür verantwortlich, dass die Plattenbosse an ihn glaubten und ihn weiter aufbauen wollten, mit einem grossen Produktionsbudget für sein Debutalbum ausstatteten und, gemäss Conrads eigenen Angaben, ihn mit Limousinen zuhause abholen liessen. Aus diesem Abhängigkeitsverhältnis floh er alsbald und veröffentlichte seine kommenden Alben bei den von der Plattenindustrie unabhängigen Labels von Herbert Grönemeyer (Grönland Records) und Matthew Herbert (Accidental Records). Mehr und mehr wurde er zum Selfmade Man, verzichtete auf ein Management und eine Bookingagentur, und machte in den letzten Jahren alles was er selber machen konnte selber.
Dass er im Jahr 2010 von England in das beschauliche Bern zog hat damals kaum jemand mitbekommen, in der Schweiz war Merz dann doch zu wenig bekannt als dass es jemandem aufgefallen wäre, dass er plötzlich des Öfteren in den Publikumsräumen der Berner Clubs auftauchte. Auf den Berner Bühnen landete er schliesslich erst als er den lokalen Schlagzeuger Julian Sartorius kennenlernte und die beiden eine Zusammenarbeit starteten, die im kurzlebigen Projekt Merz feat. Sartorius Drum Ensemble gipfelte. Damit stand er zum ersten Mal auf der Dampfzentrale-Bühne, am Saint Ghetto Festival 2013 war das. Zwei Jahre später taufte er im gleichen Haus sein bisher letztes Album, «Thinking Like A Mountain».
Der amerikanische Zitherspieler, Sänger und Keyboarder Laraaji ist der Inbegriff einer experimentellen Auslegung von New Age-naher Ambient Music. Entdeckt wurde der ehemalige Schauspieler und Comedian Ende der 1970er-Jahre von Brian Eno, für den er in der wegweisenden und dem Genre ihren Namen gebenden vierteiligen Plattenreihe «Ambient» ein Album veröffentlichte. Lange aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, wurde er in den letzten Jahren von einem jüngeren Publikum wiederentdeckt. Nach mehreren Veröffentlichungen auf dem Brian Eno-nahen Label All Saints Records erscheint im Herbst ein Album bei Warp Records.
Shahzad Ismaily, New Yorker pakistanischer Abstammung, steht oft im Dienste international bekannter Grössen. Als Instrumentalist findet man ihn auf Bühnen und Platten zusammen mit Patti Smith, Tom Waits, Laurie Anderson, Lou Reed, Yoko Ono, John Zorn, Anna von Hausswolff, Marc Ribot oder Bonnie Prince Billy.
Es gibt auf der Doppel-LP «Dreams Of Sleep And Wakes Of Sound» auch vier Solostücke von Merz. Und es finden sich zwei Songs auf der letzten Plattenseite des Albums, welche man als klassische Merz-Popkompositionen bezeichnen könnte, bei denen er also auch als der begnadete Sänger, der er ist, in Aktion tritt. Für diese beiden Aufnahmen hat er nochmals in die Gästelisten-Trickkiste gegriffen und die kalifornische Singer/Songwriterin Victoria Williams zwecks Einspielung von Gesangsspuren ins Studio geholt.
Fotocredits:
Jed Ochmanek, James Paul, Scott Irvine
Videocredits:
Recorded by Björn Meyer
Mixed in Joshua Tree, California by Merz
Environment by Jed Ochmanek
Video edited by Jed Ochmanek
Live footage shot by Aldir Polymeris
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