Während des Probenprozesses zu «ABSENT BODIES» tauschten sich Chris Leuenberger und Fatin Abbas regelmässig via Sprachnachrichten aus. Diese veröffentlichen sie hier in vier Podcast-Episoden, zusammen mit Eindrücken der outside eyes, welche mit einer Aussenperspektive ihre Eindrücke wiedergeben und Zitaten, die sie inspiriert haben.
Das Zitat von Sara Ahmed als Audio:
Episode 1: LOOKING (auf Deutsch)
Das Zitat von Robin DiAngelo als Audio:
Episode 2 PROCESSING (auf Englisch):
Das Zitat von Kübra Gümüsay als Audio:
Chris Leuenberger:
«Als Fatin mich nach meiner Motivation für Absent Bodies fragte, fiel es mir schwer, mich klar zu positionieren. Denn es scheint, dass die Faktoren, die mich dazu gebracht haben, dieses Projekt zu initiieren, vielschichtig und komplex sind:
Ein Faktor war eine Art Midlife Crisis, die ich um meinen 40. Geburtstag herum vor etwa eineinhalb Jahren hatte: Ich begann, ernsthafte Zweifel an meiner Rolle als Choreograf und als Yogalehrer zu haben. Mir wurde klar: So verdiene ich also meinen Lebensunterhalt; indem ich andere Körper anweise, wie sie sich bewegen sollen. Ich begann mich zu fragen, inwieweit ich noch in der Lage war, diese Rolle mit Integrität zu verkörpern. Mir wurde klar, wie sehr ich mich mit dem Namen identifiziere, den ich mir als Künstler gemacht habe, wie sehr ich mich mit dem Respekt und der Anerkennung identifiziere, die ich für meine Arbeit bekomme, und mit den Jobs und Möglichkeiten, die ich für mich selbst geschaffen habe. Aber kreiere ich sie tatsächlich selbst, diese Jobs und Gelegenheiten? Oder fallen sie mir zu weil ich weiß und männlich und Schweizer bin?
Als Schweizer Künstler, der von Pro Helvetia gefördert wird, hatte ich das Privileg, meine Arbeiten in Südamerika und Indien zu zeigen und zu entwickeln, wo ich stark mit meinem weißen männlichen Privileg konfrontiert war. In unserem letzten Projekt „Ef_femininty“, das in Zusammenarbeit mit Marcel Schwald, einem Theaterregisseur aus Basel (ebenfalls ein weißer Cis-Mann wie ich) und den drei indischen Künstlerinnen Shilok Mukkati, Diya Naidu und Living Smile Vidya entstand, wurden mir die komplexen Machthierarchien aufgrund von Gender, Race und Klasse (oder im Beispiel Indien: Kaste), die in der postkolonialen Welt immer noch sehr präsent sind, sehr deutlich und bewusst.
In „Ef_femininity“ war es unumgänglich, diese Machtungleichgewichte sowohl im Probenprozess als auch in der Vorstellung zu thematisieren. Ich habe viel dazugelernt, nicht nur über Gender, sondern auch über Rassifizierung und über das Kastensystem. Ich habe begriffen, dass die Thematik höchst komplex ist und mir und uns allen noch ein langer Weg bevorsteht, um das alles erstmal zu begreifen und aufzuarbeiten.
Ich habe mich eigentlich nie als politischer Künstler gesehen. Aber das änderte sich, als ich Marcel kennenlernte und begann, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er ist nicht nur Theaterregisseur, sondern versteht sich auch sehr stark als politischer Aktivist. Insbesondere der reichhaltige und intensive Kreationsprozess von „Ef_femininity“ öffnete mir die Augen. Ich war berührt und inspiriert von unseren Indischen Performerinnen Diya, Smiley und Shilok, für welche Kunstschaffen und politischer Aktivismus tief miteinander verbunden sind.
Weil ich Künstler*innen kennenlernte, die keine andere Wahl zu haben schienen, als politische Kunst zu machen, wurde mir klar, dass ich meine privilegierte Position nicht länger als selbstverständlich hinnehmen und von ihr profitieren konnte. Ich wollte mich dem System des institutionellen Rassismus, an dem ich als weißer Mann beteiligt bin, stellen und es hinterfragen. Ich spürte, dass ich mich nicht länger hinter meiner Naivität verstecken konnte und dass ich Verantwortung für mein Handeln und meine Entscheidungen übernehmen musste.
Ich wollte auch auf meine Kindheit und Jugend zurückschauen um herauszufinden, welche Rolle weißesPrivileg und Rassismus in meinem Aufwachsen in der Schweizer Provinz gespielt hatte: als ich mit unseren Nachbarskindern spielte, die vietnamesische Flüchtlinge waren (ich war meistens derjenige, der entscheiden durfte, welche Spiele wir spielen) oder als ich meinen ersten Freund im Gymnasium kennenlernte, der ein junger Mann aus Kamerun war.
Du fragst mich auch, warum ich mich entschieden habe, diese Themen durch Choreografie zu behandeln. Ich würde sagen, es ist einfach, weil dies das Medium ist, in dem ich ausgebildet wurde. Das Theater ist eine Plattform, die dazu beitragen kann, Sichtweisen zu verändern. Aber natürlich habe ich mich auch gefragt, und ich denke, es ist eine berechtigte Frage, ob es nicht effizienter wäre, diese Themen durch politischen Aktivismus anzusprechen.
Hier ist eine Choreografie von Whatsapp-Sprachnachrichten, die Fatin und ich im vergangenen Mai miteinander ausgetauscht haben. Es ist eine Rückblende auf den ersten Lockdown, als Fatin mich zum ersten Mal nach meiner Motivation für dieses Projekt fragte. Ihre Reaktion war so viel interessanter als das, was ich zu sagen hatte:»
Episode 3 PROCESSING (auf Englisch):
Das Zitat von bell hooks als Audio auf Englisch:
Das Zitat von James Baldwin als Audio:
Das Zitat von Frantz Fanon als Audio:
Episode 4 REACTING (in English):
Künstlerische Co-Leitung: Choreografie Chris Leuenberger. Künstlerische Co-Leitung: Text Fatin Abbas. Performance: Matthew Rogers, Living Smile Vidya. Mentoring: Sally De Kunst. Dramaturgie: Marcel Schwald. Outside Eyes / Spezialistinnen: Pascale Altenburger, Serena Dankwa, Lea Martini, Monika Truong, Living Smile Vidya. Interview Partner*innen: JiHae Ko, Marcelo Kuna, Diego Mud, Sandeep TK, René Agbor, Christi Dufour. Sound Design, Text Aufzeichnung: Thomas Jeker. Licht Design: Daniel Tschanz. Stimme: Fatin Abbas. Grafik, Fotografie: Silvia Rohrbach. Video Aufzeichnung: Kai Wido Meyer. Kontakt/Management: Sabine Jud.Eine Produktion von Abbas / Leuenberger in Koproduktion mit der Dampfzentrale Bern.
Mit Unterstützung durch das Schloss Bröllin, Lo Studio Bellinzona, Kultur Stadt Bern, SWISSLOS/Kultur Kanton Bern, Burgergemeinde Bern, Bürgi-Willert-Stiftung, Schweizerische Interpretenstiftung, Netcetera, Gesellschaft zu Ober-Gerwern, Gesellschaft zu Zimmerleuten.
Fotocredits: Peter van Heesen & Silvia Rohrbach