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Demonstration anlässlich der Nichtwahl von Christiane Brunner, Bern 1993.

»Wir sind hier in einer politischen Welt, die eingeschlossen ist unter der Bundeshauskuppel. Die Sonnenstrahlen können sie nicht durchdringen. Sie spinnen Intrigen, meine Herren Politiker, welche die Politik so undurchsichtig werden lassen, dass sie niemanden mehr interessiert und in den Frauen nichts anderes als Verliererinnen sein können. Frauen kennen andere Spielregeln als jene dieser immer noch männlichen Welt […].«¹ Mit diesen Worten zog Christiane Brunner am 10. März 1993 vor dem versammelten Schweizer Parlament ihre Kandidatur als Bundesrätin zurück. Den Einzug der Sozialdemokratin ins oberste Regierungsorgan der Nation hatte das Parlament eine Woche zuvor – am 3. März – schon einmal vereitelt. Anstelle von Christiane Brunner war an jenem Tag ihr nichtkandidierender Parteigenosse Francis Matthey in die siebenköpfige Landesregierung gewählt worden. Auf Druck seiner Partei durfte dieser das Amt allerdings nicht annehmen, wodurch es eine Woche später zu einer erneuten Wahl kam. Doch auch dieses Mal verwehrte das männlich und bürgerlich dominierte Parlament der Sozialdemokratin die Ernennung zur Bundesrätin. Dem vorausgegangen waren einerseits eine medial inszenierte Schlammschlacht gegen ihre Kandidatur, andererseits eine breite, feministische Unterstützung für ihre Wahl. Was schließlich als ›Brunner-Skandal‹ in die Geschichtsschreibung eingehen sollte, betitelte die Journalistin Sabine Christiansen damals als »zappendüster«, als »pechschwarzes Patriarchat im Berner Bundeshaus«.² Doch was wird unter dem sogenannten Brunner-Skandal verstanden? Wie kam es überhaupt zu einem solchen Politskandal, der dem Land eine seit langem nicht mehr gesehene Protestbewegung und Frauensolidarität bescherte? Und welche Konsequenzen folgten diesem helvetischen Polit-Ereignis? Diesen Fragen wird im Folgenden mit Bezug auf skandaltheoretische Ansätze sowie in Anlehnung an das Konzept des ›Kritischen Moments‹ von Pierre Bourdieu nachgegangen. Dabei gilt es analytisch zu berücksichtigen, dass der Bundesratskandidatur und der Nichtwahl von Christiane Brunner in mehrfacher Weise und aus unterschiedlichen Perspektiven ein Skandal eingeschrieben war: In einem ersten Akt des Politdramas konstruierten die Medien und Politiker die Kandidatur Brunners als Skandal, was in deren Nichtwahl resultierte. Diesem folgte ein zweiter Akt, als die Bevölkerung und Vertreterinnen verschiedener politischer Lager die Nichtwahl Brunners ihrerseits zum Skandal erklärten.

Christiane Brunner spricht nach der Wahl von Ruth Dreifuss (links im Bild) in den Bundesrat zu den Demonstrierenden.

Erster Akt: Die skandalisierte Kandidatur

Zum Gegenstand einer durch die Verletzung bedeutender sozialer Normen ausgelösten öffentlichen Entrüstung – so die Kurzdefinition von Skandal³ – avancierte bereits die Nomination Christiane Brunners zur Bundesratskandidatin. Nachdem Anfang 1993 der sozialdemokratische Bundesrat René Felber seinen Rücktritt bekanntgab, bestimmte die Sozialdemokratische Partei (SPS) die Welschschweizerin zur offiziellen und alleinigen Kandidatin für das Bundesratsamt. Doch die Gewerkschafterin und Feministin passte vielen – insbesondere bürgerlichen Männern und Parlamentariern – nicht ins Bild eines Mitglieds der Landesregierung. Kaum war Brunner als potentielles Regierungsmitglied im Gespräch, schickte ein anonymes Komitee für die Rettung der Moral unserer Institutionen einen Brief an verschiedene Pressestellen, in welchem es die Existenz eines Nacktfotos sowie einen Schwangerschaftsabbruch Brunners anklagte. Die Boulevardzeitung »Der Blick« griff die Unterstellungen auf und leitete eine mediale Schlammschlacht ein, wodurch der sogenannte Skandal seinen Anfang nahm. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie dieser verlief, warum er reüssierte und letztlich die Wahl von Christiane Brunner zur Bundesrätin verhinderte.

Demonstration anlässlich der Nichtwahl von Christiane Brunner, Bern 1993.

Skandale folgen jeweils einer ähnlichen Dramaturgie.⁴ Wird dem Soziologen Karl Otto Hondrich in seinen Ausführungen zur Rekonstruktion des Skandals gefolgt, initiiert eine wirkliche oder angenommene moralische Verfehlung einer Institution oder Person, die für die Einhaltung entsprechender Normen steht, den ersten Schritt hin zu einem Skandal.⁵ Die Anschuldigungen gegenüber Christiane Brunner, sie habe einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen und sich nackt fotografieren lassen, fungierten hier als Skandal auslösende Elemente. Brunner wurde damit Handlungen bezichtigt, die – so die Einschätzung der Skandalierer – als moralisch verwerflich und dementsprechend bei einer Politikerin als inakzeptabel verurteilt würden. Was als moralische Verfehlung gilt, ist selbstverständlich hochgradig normiert und – als Präzisierung zu Skandaltheorien – vergeschlechtlicht. Um die Entstehung und den Verlauf von Skandalen präziser zu analysieren, ist daher ein Fokus auf soziale Differenzkategorien sowie auf (vergeschlechtlichte) Machtverhältnisse wichtig, woran es skandaltheoretischen Überlegungen bisher mangelt. Anhand des Brunner- Skandals soll die Bedeutung der Analysekategorie Geschlecht exemplifiziert werden, ist sie im vorliegenden Fall doch unabdingbar, um den Skandal zu fassen. So sind die Vergehen, denen sich Brunner angeblich schuldig gemacht hatte, typische Anschuldigen gegen Frauen. Dieser Geschlechtsspezifik bewusst, bemerkte Christiane Brunner kritisch, dass »es niemandem in den Sinn [käme], einem männlichen Bundesratskandidaten die Frage zu stellen, ob er je in einen Fall eines Schwangerschaftsabbruchs involviert war.«⁶ Wie Brunners Aussage verdeutlicht, hängt es neben der Art der Verfehlung und der Position der Angeklagten auch vom Geschlecht der skandalisierten Person ab, ob eine begangene oder unterstellte Verfehlung überhaupt als solche erkannt wird und zum Skandal führt. Allein der Vorwurf einer moralischen Verfehlung reicht nicht, um einen Skandal herbeizuführen. In einem weiteren Schritt muss das tatsächlich oder vermeintlich Verwerfliche enthüllt werden, wodurch Aufmerksamkeit erregt und Entdeckung verheißen wird.⁷ Obwohl nicht in Form eines abgedruckten Nacktbildes, so erfuhren die Anschuldigungen gegenüber Christiane Brunner dennoch ihre Enthüllung, als die meistgelesene Tageszeitung »Der Blick« die Vorwürfe gegenüber der Kandidatin publik machte. Auch dieser Schritt auf dem Weg zum Skandal präsentiert sich aus einer Geschlechterperspektive aufschlussreich. Die kompromittierende Fotografie verlangte geradezu nach einer Enthüllung, sollte das Bild nämlich an einer ›Orgie‹ im Genfer Frauenhaus entstanden sein⁸ – also just an einem der wenigen Orte, die Männern verwehrt und deswegen wohl umso suspekter war, deren Phantasien jedenfalls mächtig anregte. In der Folge tauchte aber nie ein solches Bild auf und auch für den Vorwurf des Schwangerschaftsabbruchs konnte kein Beweis geliefert werden.

Demonstration anlässlich der Nichtwahl von Christiane Brunner, Bern 1993.

Nur wenn der Enthüllung in einem dritten Schritt eine kollektiv geteilte Entrüstung folgt, nimmt ein Skandal seinen Fortgang.⁹ In der Tat kolportierten weitere Medien die Gerüchte um Brunner und führten das Gerede als Ausgangspunkt an, um die Integrität und Kompetenz der Juristin, Gewerkschaftspräsidentin und langjährigen Politikerin plötzlich in Frage zu stellen. In diese medial inszenierte Empörung stiegen nun zusätzlich etliche Parlamentarier ein. Entsprangen die Reaktionen der Medien und der Politiker aber tatsächlich der Empörung über die angeblichen Verfehlungen Brunners oder diente die Entrüstung als Vorwand, um die Wahl der linken und feministischen Kandidatin zu verhindern? Christiane Brunner stolperte – so die hier vertretene These – weder über eine angebliche Abtreibung, noch über die zweifelhafte Existenz einer Bildaufnahme. Woran Brunner scheiterte, war ihr Überschreiten der im politischen Feld geltenden Normen und Regeln. Von diesen übertrat Brunner gleich mehrere. Aus schwierigen und nicht-intakten Familienverhältnissen stammend, entsprach sie einerseits nicht der parlamentarischen Klassennorm. Als Frau – zumal als Feministin mit unkonventionellem Auftreten, direktem Stil und wenig Vorliebe für politischen Elitarismus – verstieß Brunner andererseits gegen die herrschenden Geschlechternormen. Der Frauenanteil im eidgenössischen Parlament betrug zu diesem Zeitpunkt lediglich 13% und während des beinahe 150-jährigen Bestehens des Bundesrats wies das Gremium gerade mal eine Frau auf. Mit Christiane Brunner schickte sich just jene Frau an, Teil der Regierung zu werden, die Ende der 1960er Jahre eine Mitgründerin der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) und 1991 eine Initiatorin des schweizerischen Frauenstreiktags war, der eine halbe Million Frauen gegen die mangelhafte Umsetzung von Gleichstellungsversprechen protestieren ließ. Es verwundert kaum, dass eine solche Kandidatin mit ihrem Bruch von Klassen- und Geschlechternormen in der androzentrischen und größtenteils bürgerlichen ›classe politique‹ Entrüstung evozierte. Für die Vollendung eines Skandals bedarf es gemäß Hondrich noch eines letzten Schrittes – der Genugtuung. Er beschreibt diese folgendermaßen: »Verletzte Werte müssen geheilt, unscharfe Regeln verschärft, hochgestiegene Karrieristen gestürzt, Individuen geopfert werden – auf dem Altar der von vielen geteilten moralischen Gefühle.«¹⁰ Diese Genugtuung – passender im vorliegenden Kontext ist der Begriff ›Machtdemonstration‹ – vollzogen die Brunner-Gegner als sie am ersten Wahltag anstelle der offiziellen Kandidatin deren nichtkandidierenden Parteigenossen Francis Matthey zum Bundesrat wählten. Die mit der Kandidatur der Sozialdemokratin beinahe ins Wanken geratenen Klassen- und Geschlechternormen festigten sich damit wieder, die auf das höchste politische Gremium der Nation aspirierende Politikerin konnte auf ihren Platz zurückgewiesen werden und die Sanktionierung Brunners befriedigte die angeblich »von vielen geteilten moralischen Gefühle«.¹¹ Mit der verweigerten Wahl Brunners strafte das Parlament indes nicht nur die Kandidatin selbst ab. Vielmehr zerstörte es die Hoffnung vieler, dass endlich eine Frau Bundesrätin werden würde. Es war dieser Akt der männlichen, bürgerlichen Machtdemonstration, dieses ›pechschwarze Patriarchat‹, das von anderer Seite – von der Bevölkerung, speziell von Frauen – als skandalös erachtet und nun zum Skandal ausgerufen wurde. Sich ihrer Popularität bewusst, ließ sich Brunner durch den Parlamentsentscheid folglich nicht entmutigen und trat unmittelbar nach ihrer Niederlage mit den kämpferischen Worten »Nous avons perdu la première bataille – seulement la première bataille!«¹² vor ihre enttäuschten Anhänger_innen. Auf welchen Widerhall dieser Satz in den nächsten Tagen stoßen sollte, konnte sie sich zu diesem Zeitpunkt wohl nicht ausmalen.

Demonstration anlässlich der Nichtwahl von Christiane Brunner, Bern 1993.

Zweiter Akt: Der Skandal der Nichtwahl

In der Bevölkerung hatte die Diffamierung der Kandidatin wenig Rückhalt. Vielmehr taxierten viele Bürger_innen einerseits die mediale Verleumdung Brunners als moralisch verwerflich. Nachdem das Parlament Brunner als Regierungsmitglied ablehnte, definierten ihre Unterstützer_innen andererseits auch die erneute Exklusion einer Frau von der politischen Macht als moralische Verfehlung. Dass die medialen Angriffe auf die Kandidatin und die politische Sanktionierung Brunners zu starkem Protest führten, weist auf eine grundsätzliche Transformation von gesellschaftlichen Vorstellungen zu geltenden Normen und moralischem Handeln hin. Wurde Frauen der Zugang zur institutionalisierten Politik seit jeher ohne folgenreiche Unmutsbekundungen verweigert, kollidierte ein solches Vorgehen nun offenbar mit einem veränderten moralischen Konsens. Es zeigte sich in dieser Märzwoche, dass das Versprechen einer Demokratie nach politischer Inklusion aller bedeutsamen sozialen Gruppen – worunter Frauen alleine schon quantitativ keine Minorität stellten – nicht länger uneingelöst bleiben konnte. Indem das Parlament einen nichtkandidierenden Parlamentarier der offiziellen Kandidatin vorzog, verstieß es gegen das eine Demokratie definierende Paradigma der Gleichheit. In den Augen der Protestierenden lag in dieser moralischen Verfehlung das Skandalöse, womit wiederum der erste Schritt auf dem Weg zu einem Skandal eingeleitet wurde. Die Nichtwahl von Christiane Brunner nahmen ihre Anhänger_innen als Ausgangspunkt, um den hinter der medialen Schlammschlacht und dem Verweigerungsakt des Parlaments steckenden Sexismus zu demaskieren. Sie erkannten, dass sich in dieser Bundesratswahl nicht einzig eine Abwehrreaktion gegenüber einer den bürgerlichen Parlamentariern unliebsamen Politikerin verbarg. Vielmehr stand die Nichtwahl Brunners stellvertretend für die kontinuierliche politische Exklusion der Frauen und für den generell minoritären Status von Politikerinnen. An der Nichtwahl Brunners manifestierte sich insbesondere der Widerstand des politischen Feldes gegenüber selbstbewussten, kämpferischen und gegen die gängigen Weiblichkeitsnormen verstoßenden Politikerinnen. Indem die Protestierenden die frauenfeindlichen Strukturen und Mechanismen des politischen Feldes aufzeigten, ermöglichten sie den zweiten Schritt und somit den weiteren Verlauf des Skandals. Unmittelbar nach dem als verwerflich eingestuften Verhalten der Medien und der Politiker sowie nach der Enthüllung der dahinter steckenden Absichten überschwemmte eine Welle der Empörung das Land – eine Bewegung, die mit dem Stichwort ›Frauenfrühling‹¹³ umschrieben wurde. Bürgerinnen und Politikerinnen schwiegen nach dem erneuten Übergehen einer Frau nicht mehr länger. Anders als in der Vergangenheit beugten sich die Entrüsteten nicht als Opfer androzentrischer Politik, sondern nutzten die Situation für eine breite Mobilisierung von Frauen im Allgemeinen und Feministinnen im Besonderen sowie für eine parteiübergreifende Solidarisierung. Bereits der erste Wahltag am 3. März 1993 brachte einen politischen Mobilisierungsschub. Rund tausend Frauen und einige Männer standen vor dem Bundeshaus, um ihre Wut über das Parlament kundzutun, das soeben die Wahl einer Frau in die Landesregierung vereitelt hatte. Erst unter Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen konnten Stunden nach dem Wahldebakel die letzten vor dem Regierungssitz noch ausharrenden Frauen vertrieben werden. Der Protest der Bevölkerung intensivierte sich in den darauffolgenden Tagen zusätzlich. 8.000 Personen versammelten sich beispielsweise in Zürich, um ihre Unterstützung für Christiane Brunner auszudrücken. Verteilt über die ganze Schweiz schlossen sich Menschen zu weiteren Demonstrationen zusammen. Dass während einer ganzen Woche Zehntausende von Menschen aufgrund einer Bundesratswahl auf die Straße gingen, mit Steuerboykott drohten und sich mit der unterlegenen Kandidatin solidarisierten, begründete eine Zäsur im ansonsten routinierten Verlauf der Schweizer Politik. Was aber veranlasste sie, für eine Bundesratskandidatin so dezidiert Stellung zu beziehen? Aus den zahlreichen an Christiane Brunner verschickten Nachrichten wird deutlich, dass viele Frauen in der Person Brunners und in dem ihr Widerfahrenen eigene Demütigungen und Diskriminierungserfahrungen erkannten. So wandte sich eine Bürgerin mit einem Brief an Brunner: »Ces hommes qui ne vous ont pas élue, je les connais: j’en ai un à la maison!«¹⁴ Oder eine 16-jährige Frau schrieb: »Meine Freundinnen und ich waren den Tränen nahe, aber gleichzeitig fühlten wir in uns eine ungewöhnliche Wut aufsteigen. Eine Wut auf all die Hindernisse, die eine Frau jeden Tag überwinden muss.«¹⁵ Zeitgleich zum Bürger_innenprotest formte sich im Feld der institutionalisierten Politik Widerstand gegen die männerdominierten Partei- und Politstrukturen. Das Verhalten ihrer Parteikollegen und ihrer Parteien erzürnte selbst jene, die sich bis dahin mit Kritik in den eigenen Reihen zurückgehalten hatten. Bürgerliche Parteigängerinnen und Politikerinnen solidarisierten sich mit der linken Kandidatin und drohten gar mit dem Parteiaustritt.¹⁶

Demonstration anlässlich der Nichtwahl von Christiane Brunner, Bern 1993.

Die Tradition des politischen Ausschlusses von Frauen

Vor dem Hintergrund des bisher Geschilderten stellt sich die Frage, warum die Bevölkerung gerade die Nichtwahl von Christiane Brunner als Skandal einstufte und mit ihrem Protest eine politische Ausnahmesituation einläutete. Schließlich war Brunner nicht die erste – und blieb auch nicht die letzte – Frau, der ein hohes politisches Amt verwehrt wurde. In der wenigen Literatur zum Brunner- Skandal werden vor allem psychologische Aspekte zur Erklärung herangezogen. So habe sich ein Großteil der Frauen mit Brunner identifizieren sowie die eigenen Niederlagen und Enttäuschungen auf sie projizieren können¹⁷, womit ein regelrechter Personenkult um die Bundesratskandidatin entstanden sei.¹⁸ Diese Erklärungsansätze mögen bestimmt nicht verfehlt sein, doch sollen an dieser Stelle die Ereignisse im Frühling 1993 in Anlehnung an das Konzept des ›Kritischen Moments‹¹⁹ von Pierre Bourdieu historisch kontextualisiert und analysiert werden. Bourdieu untersucht, wann und wie Krisen innerhalb eines Feldes – sogenannt kritische Ereignisse – in eine allgemeine, Felder übergreifende Krise und somit im kritischen Moment münden. Kritische Ereignisse zeichnen sich gemäß Bourdieu dadurch aus, dass die Alltagsordnung der Involvierten durch dieses Ereignis einen Bruch erleidet. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, erlitt die Ordnung des Alltags sowohl der Bevölkerung wie auch der Politiker_innen im Frühling 1993 ganz offensichtlich einen Bruch. Damit sich eine allgemeine Krise entfalten kann, müssen nach Bourdieu verschiedene kritische Ereignisse interagieren. Daher macht nur das Zurückversetzen in die Reihe früherer Geschehnisse den kritischen Moment erklärbar. Tatsächlich reihte sich das kritische Ereignis der Brunner-Nichtwahl in eine lange Tradition des verwehrten Zugangs der Frauen zur eidgenössischen Politik ein: Angefangen damit, dass die Schweiz als letzte europäische Demokratie ihren Bürgerinnen 1971 endlich die politischen Rechte zugestand. Dies obwohl die Schweiz die erste moderne Demokratie war, die ihren männlichen Bürgern bereits 1848 das Stimm- und Wahlrecht gewährte. Schweizerinnen erhielten in ihrem Land, das stets das Selbstverständnis als ›Wiege der Demokratie‹ hochhielt, erst über 100 Jahre nach den Männern die politischen Bürgerrechte auf Bundesebene.²⁰ Nach der Implementierung des Stimm- und Wahlrechts wurden Frauen aber weiterhin von einflussreichen politischen Gremien ferngehalten. Etwa – um  nur einige kritische Ereignisse zu nennen – wählte das Parlament 1983 anstelle der Sozialdemokratin Lilian Uchtenhagen einen nichtkandidierenden Ratskollegen unerwartet ins Amt. Der ersten Bundesratskandidatin wurde intellektuelle Überheblichkeit und mangelnde emotionale Kontrolle vorgeworfen.²¹ Ein Massenprotest gegen den Parlamentsentscheid blieb allerdings aus. Dennoch empörte die Nichtwahl Uchtenhagens vor allem Frauen und die SPS diskutierte schon damals über einen Regierungsaustritt.²² Die Wahl der ersten Bundesrätin – die Freisinnige Elisabeth Kopp – gelang trotz einer Medienschlammschlacht um ihren Ehemann. Doch musste diese nach nur einer Amtsperiode aufgrund einer Indiskretion²³ im Kontext angeblicher Verfehlungen ihres Gattens zurücktreten. Die Nichtwahl von Christiane Brunner markierte ein weiteres kritisches Ereignis in der Chronologie des politischen Ausschlusses von Frauen. Mittlerweile hatte sich jedoch bei vielen Bürgerinnen und Politikerinnen die Enttäuschung über die konstante Verhinderung und Unterrepräsentation von Frauen in der Politik angestaut, wodurch – in den Worten Bourdieus – die über Jahrzehnte erfahrene »strukturelle Deklassierung« eine »kollektive Disposition zur Revolte«²⁴ erzeugen vermochte. Den kritischen Moment, zu welchem ein solches kritisches Ereignis wachsen kann, beschreibt Bourdieu als »Moment, in dem – gegen die alltägliche Erfahrung […] – alles möglich wird (oder doch scheint), in dem die Zukunft wirklich kontingent, das Kommende wirklich unbestimmt, der Augenblick wirklich als solcher erscheint – in der Schwebe, abgehoben, ohne vorgesehene noch vorhersehbare Folge.«²⁵ Bourdieus Definition des kritischen Moments umschreibt damit prägnant den Zeitabschnitt vom 3. bis 10. März 1993, der mit Brunners Nichtwahl am ersten Wahltag begann und mit der Wahlwiederholung eine Woche später endete. Voraussetzung für den kritischen Moment ist nach Bourdieu eine synchronisierte Wahrnehmung und Betroffenheit zwischen den Akteur_innen des Feldes, das unmittelbar von einer Krise betroffen ist und weiteren Akteur_innen aus anderen Feldern. Tatsächlich führte die Nichtwahl Brunners nicht nur zu einer Krise im primär betroffenen Feld der institutionalisierten Politik, sondern ging auf die Bevölkerung über. Ihrer strukturellen Benachteiligung in der Gesellschaft waren sich nunmehr auch viele Bürgerinnen bewusst. Nur zwei Jahre waren vergangen, seit am 14. Juni 1991 eine halbe Million Frauen am landesweiten Frauenstreik teilgenommen hatten. Mit kreativen Aktionen schärften sie an jenem Tag das Bewusstsein über die zahlreichen Benachteiligungen, denen Frauen trotz der in der Verfassung verankerten Geschlechtergleichstellung nach wie vor ausgesetzt waren. Als schließlich die Parlamentarier am 3. März 1993 erneut den Anspruch der Frauen auf Teilhabe an der Macht übergingen, war das für viele nicht mehr länger tragbar. Das Parlament untergrub damit die Bestrebungen und Ergebnisse einer zunehmenden Gleichstellung und zeigte sich resistent gegenüber dem gesellschaftlichen Wandel, der die traditionellen Rollen und Bilder von Frauen und Männern verändert hatte. Die Nichtwahl Christiane Brunners legte jedoch nicht nur Gleichstellungsdefizite offen, sondern brüskierte überdies die Sozialdemokratie einerseits und andererseits die Gewerkschaften. Zum wiederholten Mal vereitelte das Parlament die von der SPS angestrebte personelle Besetzung der Regierung, worauf sich die Stimmen in der SPS mehrten, die Partei solle sich von der Regierungsbeteiligung zurückziehen und in die Opposition gehen²⁶ – ein Szenario, das die Schweiz in eine Regierungskrise gestürzt hätte. Mit der Nichtwahl Brunners stieß das Parlament auch die Gewerkschaften vor den Kopf. In der wirtschaftlichen Krisenzeit mit hoher Arbeitslosigkeit weckte Christiane Brunner als Präsidentin der zweitgrößten Schweizer Gewerkschaft Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Durch die vielen empörten, aus unterschiedlichen Feldern stammenden Akteur_innen weitete sich das kritische Ereignis der Nichtwahl Brunners in der Folge zu einer allgemeinen Krise, zum ›Kritischen Moment‹ aus. Der ›Kritische Moment‹, so Bourdieu, erzwingt außerdem eine Stellungnahme zur krisenhaften Situation. Sich einer solchen zu entziehen, war in Anbetracht einer die Medien, das politische Feld und den sozialen Alltag dominierenden Bundesratswahl schier unmöglich. Nach dem Entscheid des Parlaments, bei der hundertsten Bundesratswahl zum neunundneunzigsten Mal einen Mann zu ernennen, mussten nun alle, »ob man will oder nicht, ob man es weiss oder nicht, sich innerhalb des Raums der Positionen situieren oder wird situiert. Mit der politischen Naivität oder Unschuld hat es damit ein Ende.«²⁷ Charakteristisch für den ›Kritischen Moment‹ ist im Weiteren, dass er bei den Akteur_innen Erwartungen und Ansprüche weckte und sich insbesondere der Glaube durchsetzte, dass die in einem Feld inhärenten Regeln durch die Krise außer Kraft gesetzt werden. Sowohl Politikerinnen wie auch die Bevölkerung erwarteten angesichts der kollektiven Proteste gegen die Wahl Mattheys, dass dieser – entgegen dem üblichen politischen Prozedere – auf sein Amt verzichten und damit doch noch Christiane Brunner den Weg in den Bundesrat frei machen würde. Das bis dahin Undenkbare mutete den Brunner-Anhänger_innen mitten in dieser allgemeinen Krise plötzlich als möglich an und so schien »das Kommende wirklich unbestimmt « und »ohne vorhersehbare Folge«²⁸. Mit Francis Matthey verfügte die Schweiz aber de facto über einen neu gewählten Bundesrat. Der Erkorene nahm den Parlamentsentscheid jedoch nicht sofort an, sondern bat sich Zeit zum Nachdenken aus. Für die sozialdemokratische Parteileitung stand indes ßer Diskussion, dass dieser die Ernennung zum Bundesrat akzeptieren kann. Denn nochmals mochte sich die SPS dem Diktat der bürgerlichen Parlamentsmehrheit nicht beugen. Der Druck seiner Partei zwang Matthey schließlich, auf das Amt zu verzichten. In einer außerordentlichen Sitzung entschied die sozialdemokratische Fraktion, nebst Christiane Brunner Ruth Dreifuss als Kandidatin ins Rennen um den Bundesratssitz zu schicken.²⁹ Somit kam es am 10. März zu einem zweiten Wahltag. Mit der wenig bekannten Dreifuss kandidierte ebenfalls eine Gewerkschafterin und Feministin, die von Christiane Brunner stets als ihre ›politische Zwillingsschwester‹ betitelt wurde. Die Verschwesterung der beiden Aspirantinnen bewies sich in der Folge als geschickter politischer Schachzug. Dadurch ließen sich die beiden Sozialdemokratinnen nicht durch politische Ränkespiele entzweien und der von ihren Gegnern wohl erhoffte Konkurrenzkampf um den Bundesratssitz blieb aus. Am zweiten Wahltag strömten über 10.000 Menschen, mehrheitlich Frauen, vor das Bundeshaus. Im Innern des Gebäudes appellierte die christdemokratische Nationalrätin Judith Stamm an die Volksvertreter_innen: »Vor der Türe des Bundeshauses steht nicht die Straße, vor der Türe des Bundeshauses steht der Souverän, Männer und Frauen, welche für die Teilnahme der Frauen an der Landesregierung demonstrieren.«³⁰ Etliche Parlamentarier zeigten sich von den in ihren Augen »beschämenden Szenen vor dem Bundeshaus «³¹ jedoch wenig beeindruckt und taten die Willensbekundung der Bürger_innen als »eines freiheitlichen, demokratischen Landes unwürdig«³² ab. Andere hingegen wollten sich nicht beeinflussen lassen von den »Manipulationen, […] durch diese extremen feministischen Tätigkeiten vor dem Bundeshaus «³³. Trotz der beispiellosen Empörung, welche das Land durch die Nichtwahl Brunners überrollt hatte, ließ sich die Mehrheit der bürgerlichen Parlamentarier nicht zugunsten Brunners umstimmen. Als deutlich wurde, dass Brunner nicht die erforderliche Anzahl Stimmen erlangen würde, zog diese sich unter Anprangerung der eingangs zitierten Politintrigen von der Kandidatur zurück, um ihrer Mitkandidatin zum Sieg zu verhelfen. Daraufhin wurde Ruth Dreifuss schließlich zur Bundesrätin gewählt. Warum das Parlament sie vorzog, erklärte Dreifuss in einem Fernsehinterview mit zwei Faktoren: »Ich beruhige die Leute, weil ich ein wenig bieder aussehe. […] Und das Zweite ist vielleicht, weil ich genau dem entspreche, was man von einer Frau in der Politik erwartet: ledig, keine Familie, so etwas zwischen Mann und Frau, die alles geopfert hat und dadurch vielleicht Anspruch auf Anerkennung hat. Beides ist für mich sehr schockierend.«³⁴ Nach einer Woche politischem Ausnahmezustand zog Ruth Dreifuss als zweite Frau in der Geschichte des helvetischen Bundesstaats in die Landesregierung ein. Dieser Ausgang des Brunner-Skandals freute und enttäuschte gleichermaßen. Die SP-Parteileitung betrachtete die Wahl als Erfolg, da eine ihrer Kandidatinnen und damit die erste sozialdemokratische Bundesrätin gewählt wurde. Teile der Bevölkerung sowie viele SP-Mitglieder und -Politikerinnen beurteilten die Doppelkandidatur jedoch als Kniefall vor dem bürgerlichen Parlament. Mit der Wahl von Dreifuss wurde aber doch ausreichend Genugtuung geschaffen, damit die Proteste versiegten. Gezeigt hatte sich während dieser Woche, dass die Auflehnung der Bevölkerung und die Frauensolidarität im politischen Feld zusammen genug Druck erzeugten, um schlussendlich die Wahl einer Bundesrätin durchzusetzen. Die Synchronisation der Krise in diesen beiden Feldern bewirkte – um in Bourdieus Worten zu sprechen – die unvorhersehbare Folge: die Wahl von Ruth Dreifuss. Der Tag des ›pechschwarzen Patriarchats im Berner Bundeshaus‹ verwandelte sich somit eine Woche später – wie es die Grüne Nationalrätin Rosmarie Bär formulierte – in einen »Tag, an dem das Patriarchat glaubte, Urstände zu feiern – und Frauenpower erntete«.³⁵

Demonstration anlässlich der Nichtwahl von Christiane Brunner, Bern 1993.

Vom Brunner-Skandal zum Brunner-Effekt

Bereits während der turbulenten Märztage von 1993 machten sich erste Anzeichen bemerkbar, dass der Skandal rund um die Regierungswahl weiter reichende Folgen für das politische Feld haben würde. Am Wochenende zwischen den beiden Bundesratswahlgängen fanden etwa im Kanton Aargau Wahlen statt, bei denen Frauen einen politischen Erdrutschsieg verbuchen konnten: der Frauenanteil stieg im Vergleich zu den letzten Wahlen um 70 %.36 In anderen Regionen der Schweiz präsentierte sich ein ähnliches Bild nach durchgeführten Urnengängen. Bei den Wahlen, die zwei bis drei Jahre nach dem Brunner-Skandal folgten, stieg der Frauenanteil auf allen politischen Ebenen teilweise um bis 50% an, was in der Politologie mit dem Begriff ›Brunner-Effekt‹37 umschrieben wird. Die offensichtlichste Nachwirkung des Brunner- Skandals manifestierte sich somit in der verbesserten politischen Partizipation von Frauen. Doch auch innerhalb der vier Regierungsparteien, die seit 1959 traditionellerweise zusammen die Regierung stellten, hinterließ der Brunner-Skandal Spuren. Die bürgerlichen Parteien erkannten, dass die SPS von der Empörung der Frauen profitierte. Um nicht länger als frauenfeindlich zu gelten, mussten sie nun selber Maßnahmen zur Frauenförderung ergreifen. Überdies kam ihnen – im Kontext von Gleichstellungsfragen ganz ungewohnt für bürgerliche Kreise – von der Parteibasis teilweise harsche Kritik entgegen. In einem Brief empörte sich beispielsweise eine Ortsgruppe der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) über das Verhalten des CVP-Parteipräsidenten, der sich herablassend über Brunner geäußert hatte: »Die deplazierten Äusserungen […] haben uns im Tiefsten getroffen «. Worauf im Brief aufgefordert wurde: »Liebe Frauen, lasst Euch doch nicht alles von so hochnäsigen und konservativ denkenden Herren bieten. Wählt diese ab und bringt Frauen!«.38 Solch klare Aufforderungen mögen erstaunen, war man in der CVP doch stets bemüht, nicht als feministisch abgestempelt zu werden, sondern stattdessen die versöhnlicher klingende Partnerschaft zwischen Männern und Frauen zu propagieren.39 Auch strukturell schlugen sich die Ereignisse des Frühlings 1993 nieder. Die auf eidgenössischer Ebene tätige CVP-Frauenvereinigung erhielt ab April 1993 Unterstützung von einer für die Frauenförderung eingesetzten Beauftragten.40 In der Freisinnig-demokratischen Partei (FDP), die sich bislang kaum um Frauenförderung verdient gemacht hatte, kam es ebenfalls zu Auseinandersetzungen. Während die freisinnige Parteipräsidentin des Kantons Baselland darüber sinnierte, mit anderen Frauen aus der FDP auszutreten, um eine eigene, neue bürgerliche Frauenbewegung zu gründen41, meldeten andere freisinnige Frauen ihre Ansprüche auf politische Ämter an. Aus diesen Diskussionen resultierte ein Frauenförderungsprogramm, das die Partei wenige Wochen nach der Brunner- Nichtwahl offiziell in ihr Programm aufnahm.42 Selbst in der Schweizerischen Volkspartei (SVP) – um damit die bezüglich Frauenförderung rückst.ndigste Regierungspartei zu erwähnen – erachteten die Parteifrauen das Verhalten der Politiker als »beschämend«.43 Eine weitere Wirkung zeigte die Nichtwahl Brunners im eidgenössischen Parlament. Nach der Wahl von Dreifuss diskutierten Parlamentarierinnen und Vertreterinnen von Frauenorganisationen die Idee einer Quoteninitiative, die auf eine angemessene Vertretung von Frauen in allen Bundesbehörden und in der Verwaltung zielte. Bis die Initiative im Jahr 2000 zur Abstimmung kam, war vom ›Frauenfrühling‹ allerdings kaum mehr etwas geblieben. An der Urne verwarf der Souverän die Initiative mit dem schlechtesten je erreichten Resultat – mit 82 % Nein-Stimmen.44 Der Brunner- Effekt erwies sich damit als mäßig nachhaltig. Wohl stieg der Frauenanteil in der Politik nach der Bundesratswahl von 1993 kurzfristig stark an. Ab 1995 bis mindestens zur Jahrtausendwende nahm die Zahl der Frauen auf allen politischen Ebenen – also in den Gemeinden, in den Kantonen und auf eidgenössischer Ebene – durchschnittlich weiterhin zu, wenn auch nicht mehr derart spektakulär. Am nachhaltigsten wirkte sich der Brunner-Skandal indes auf die Zusammensetzung des Bundesrates aus. Mit Ruth Dreifuss zog zum zweiten Mal eine Frau in den Bundesrat ein. Seither ist die Inklusion von Frauen ins höchste politische Exekutivorgan der Schweiz nicht mehr wegzudenken. Mögen sich die geschlechtsspezifischen Kräfteverhältnisse durch den Brunner- Skandal verändert haben, so gilt es doch zu bemerken, dass Frauen in der Politik nach wie vor unterrepräsentiert sind. Darüber hinaus stagnieren die Frauenanteile einiger politischer Gremien zur Zeit oder sind rückläufig.

Konklusion

Skandale entstehen, wenn Normen verletzt werden, die auf einen Kanon von allgemeinverbindlichen moralischen Grundsätzen rekurrieren. 45 Dass der Ausgang eines Skandals zu einer kollektiven Empörung führte und damit die Basis des nächsten Skandals schuf, verweist auf eine widerstreitende Auseinandersetzung um gesellschaftliche Werte. Die von den Medien angeprangerten Normverletzungen Brunners, also deren angeblicher Schwangerschaftsabbruch und ein inexistentes Nacktbild, erachtete die Bevölkerung nicht (mehr) als Fehlverhalten, das jemanden von der Regierungsbeteiligung auszuschließen berechtigte. Für die Bürger_innen symbolisierte Brunner vielmehr das Ende des traditionellen Ausschlusses der Frauen von der politischen Macht. Diesem Transformationsprozess versuchten die Medien und politischen Machtträger mit der Diffamierung Brunners zu begegnen. Zwar stieß die Skandalisierung bei den Bewahrern der alten politischen Ordnung auf Resonanz. In der Wirkung der Skandalisierung Brunners verschätzten sich die Skandalierer aber dennoch, deutete die Bevölkerung deren Anklageversuch doch als reine Verunglimpfungsstrategie. So bildeten genau diese traditionellen, patriarchalen Herrschaftsverhältnisse im politischen Feld die Grundlage des anschließenden Skandals. Indem das Parlament zum wiederholten Male die Teilhabe einer Frau an der Landesregierung verhinderte, offenbarte es seinen chronischen Sexismus. Die lange nicht in Frage gestellte männliche Norm des politischen Feldes traf in dieser Situation auf einen neuen diskursivnormativen Kontext, der durch die Neue Frauenbewegung und durch zunehmende Gleichstellungsbemühungen gerahmt worden war. Vor dem Hintergrund dieser konkurrierenden Normen und Werte monierte die Bevölkerung den manifesten Sexismus in der Politik nun als eigentliches Skandalon. Zu offensichtlich zeigte sich bei der Brunner-Nichtwahl, dass das politische Feld den in der Zwischenzeit gesellschaftlich akzeptierten Normen der Geschlechtergleichberechtigung hinterherhinkte. Der Polit-Skandal rund um die Bundesratswahl von 1993 fungierte somit als Indikator des sozialen Wandels und legte eines der augenscheinlichsten Demokratiedefizite der Schweiz offen.

Credits

Anmerkungen:

* Für ihre wertvollen Anregungen zum Artikel danke ich Gabriella Hauch (Universität Wien) sowie Kristina Schulz, Brigitte Schnegg und Leena Schmitter (alle Universität Bern).

1 Amtliches Bulletin, 10.3.1993, S. 676 (Übersetzung d. Vf.).
2 Zeit online, 12.3.1993, http://www.zeit.de/1993/ 11/maennerwahl – Zugriff 03.10.2012.
3 Hans Mathias Kepplinger: Skandal, in: Otfried Jarren / Ulrich Sarcinelli / Ulrich Saxer (Hg.): Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil, Wiesbaden 1998, S. 723. 4 Rolf Ebbighausen / Sighard Neckel (Hg.): Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt a.M. 1989.
5 Karl Otto Hondrich: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt a.M. 2002, S. 15.
6 Catherine Duttweiler: Adieu, Monsieur. Chronologie einer turbulenten Bundesratswahl. Mit einer ergänzenden Analyse von Claude Longchamp, Zürich 1993, S. 62.
7 Karl Otto Hondrich: Enthüllung und Entrüstung, S. 15.
8 Catherine Duttweiler: Adieu, Monsieur, S. 48.
9 Karl Otto Hondrich: Enthüllung und Entrüstung, S. 15f.
10 Ebenda, S. 16.
11 Ebenda.
12 SF Wissen: http://www.wissen.sf.tv/Dossiers/Historisch/ Bundesratswahlen-Rueckblick#!videos zauberformel, Zauber zerfällt – Formel hält, 17:18 – Zugriff 03.10.2012.
13 Monique Jacot: Printemps de Femmes. Wir sind so frei 1991-1993, Genf 1994.
14 Ariane Dayer / Bruno Guissani: Chère Christiane. Lettres à une femme qui ne sera pas Conseillère fédérale, Lausanne 1993, S. 35.
15 Ebenda, S. 51 (Übersetzung d. Vf.).
16 Christine Valentin: Frauenpower in den bürgerlichen Parteien. Bürgerliche Politikerinnen fordern ebenfalls ihren Platz an der Sonne, in: Esther Haas / Dore Heim / Christa Mutter / Linda Stibler (Hg.): Der Brunner-Effekt, Zürich 1993, S. 102- 111.
17 Nicole Gysin: Angst vor Frauenquoten? Die Geschichte der Quoteninitiative 1993-2000, Bern/ Wettingen 2007, S. 49.
18 Vgl. z.B. Catherine Duttweiler: Adieu, Monsieur, S. 123-132.
19 Pierre Bourdieu: Homo Academicus, Frankfurt a.M. 1988, S. 254-303. Bourdieu untersucht in seinem Konzept die Pariser Unruhen im Mai 1968. M.E. lassen sich genügend Anknüpfungspunkte finden, um das Konzept fruchtbar auf den hier vorliegenden Gegenstand zu übertragen.
20 Der letzte Kanton (Appenzell Innerrhoden) führte gar erst 1990 das Frauenstimm- und -wahlrecht ein.
21 Catherine Duttweiler: Adieu, Monsieur, S. 24.
22 Lieselotte Schiesser: »Ich hoffe, dass die SP stur bleibt«. Wie die SPS-Spitze und -Basis die Bundesrätinwahl erlebten, in: Esther Haas et al.: Der Brunner-Effekt, S. 40-51, hier S. 51.
23 Kopp informierte ihren Gatten, dass gegen eine Firma, bei der er im Verwaltungsrat saß, eine Untersuchung wegen Geldwäscherei eingeleitet werde.
24 Pierre Bourdieu: Homo Academicus, S. 257.
25 Ebenda, S. 287.
26 Liselotte Schiesser: »Ich hoffe, dass die SP stur bleibt«, S. 46.
27 Pierre Bourdieu: Homo Academicus, S. 293.
28 Ebenda, S. 287.
29 Protokoll der außerordentlichen Fraktionssitzung der Sozialdemokratischen Fraktion der Bundesversammlung, 8.3.1993, Schweizerisches Sozialarchiv Zürich, Ar 1.117.16, Mappe: SPS Zentrale Frauenkommission 1993 2/4.
30 Amtliches Bulletin, 10.3.1993, S. 675.
31 Ebenda, S. 668.
32 Ebenda, S. 669.
33 Ebenda, S. 670.
34 SF Wissen: http://www.wissen.sf.tv/Dossiers/ Historisch/Bundesratswahlen-Rueckblick#!vide os, Damenwahl im Bundeshaus, 8:58 – Zugriff 03.10.2012.
35 Nicole Gysin: Angst vor Frauenquoten, S. 53.
36 Bundesamt für Statistik: http://www.bfs.ad min.ch/bfs/portal/de/index/themen/17/02/blank/ key/kantonale_parlemente/mandatsverteilung. html – Zugriff 03.10.2012.
37 Werner Seitz: Die geschlechtsspezifische Zusammensetzung der kantonalen Parlamente: Aktuelle Situation, historische Entwicklung und Vergleich mit dem eidgenössischen Parlament, in: Parlament, Parlement, Parlamento 10, 2007, S. 10- 13, hier S. 11.
38 Brief der Ortspartei Pfäffikon an das CVP-Generalsekretariat, Winterthur 9.11.1993, Bundesarchiv Bern, J 2.181, 2002_172, Bd. 292.
39 Im Rahmen des Dissertationsprojektes der Verfasserin wird unter anderem der Stellung von Frauen in den Regierungsparteien und im eidgenössischen Parlament nachgegangen.
40 Schreiben der Leiterin der Stelle für die politische Frauenförderung an die CVP-Kantonalparteien, Bern 23.4.1993, Bundesarchiv Bern, J 2.181, 2002_172, Bd. 292.
41 SF Wissen: http://www.wissen.sf.tv/Dossiers/His torisch/Bundesratswahlen-Rueckblick#!videos, Zauber zerfällt – Formel hält, 47:33 – Zugriff 03.10.2012.
42 Jahresbericht der FDP Schweiz 1994/95, S. 22, Bundesarchiv Bern, J 2.322-01, 2009_263, Bd. 7.
43 Catherine Duttweiler: Adieu, Monsieur, S. 63.
44 Nicole Gysin: Angst vor Frauenquoten, S. 9.
45 Kurt Imhof: Öffentlichkeit und Skandal, in: Klaus Neumann-Braun / Stefan Müller-Doohm (Hg.): Medien- und Kommunikationssoziologie. Eine Einführung in zentrale Begriffe und Theorien, Weinheim/München 2000, S. 55-68, hier S. 56. Randzitate Die Sozialdemokratin Jacqueline Fehr anlässlich der Demonstration auf dem Fraumünsterplatz am 6. März 1993, SF Wissen: http://www.wissen.sf. tv/Dossiers/Historisch/Bundesratswahlen-Rueck blick#!videoszauberformel, Zauber zerfällt – Formel hält, 25:30 – Zugriff 03.10.2012. Nationalrätin Verena Grendelmeier anlässlich der Bundesratswahl, in: Amtliches Bulletin, 10. März 1993, S. 669. Nationalrätin Leni Robert anlässlich der Bundesratswahl, in: Amtliches Bulletin, 10. März 1993, S. 675.

Bildnachweise: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich)

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